Das judische Vokd und seineheilige Schrift in der Christlichen Bibel

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Papstiche Bibelkommission

Città del Vaticano       2001

INHALT

Vorwort

Einführung

I. Die Heilige Schrift des jüdischen Volkes als grundlegender bestandteil der Christlichen Bibel

A. Das Neue Testament erkennt die Autorität der Heiligen Schrift des jüdischen Volkes an

1. Implizite Anerkennung der Autorität
2. Ausdrücklicher Rückgriff auf die Autorität der Schrift des jüdischen Volkes

B. Das Neue Testament erklärt seine Übereinstimmung mit der Schrift des jüdischen Volkes

1. Notwendigkeit der Erfüllung der Schrift
2. Entsprechung zur Schrift
3. Übereinstimmung und Unterschied

C. Schrift und mündliche Überlieferung im Judentum und Christentum

1. Schrift und Überlieferung im Alten Testament und im Judentum
2. Schrift und Überlieferung im Urchristentum
3. Beziehung zwischen den beiden Perspektiven

D. Im Neuen Testament angewandte jüdische Methoden der Exegese

1. Jüdische Methoden der Exegese
2. Exegese in Qumran und im Neuen Testament
3. Rabbinische Methoden im Neuen Testament
4. Bedeutendere Anspielungen auf das Alte Testament

E. Der Umfang des Kanons der Schrift

1. Im Judentum
2. Im Urchristentum
3. Die Bildung des christlichen Kanons

II. Grundthemen der Schrift des Jüdischen Volkes und ihre aufnahme im glauben an Christus

A. Christliches Verständnis der Beziehungen zwischen Altem und Neuem Testament

1. Behauptung einer Wechselbeziehung
2. Wiederlesen des Alten Testaments im Lichte Christi
3. Allegorisches Wiederlesen
4. Rückkehr zum Literalsinn
5. Die Einheit des göttlichen Heilsratschlusses und der Gedanke der Erfüllung
6. Aktuelle Perspektiven
7. Der Beitrag der jüdischen Schriftlesung

B. Gemeinsame Grundthemen

1. Offenbarung Gottes
2. Der Mensch: Größe und Elend
3. Gott als Befreier und Retter
4. Die Erwählung Israels
5. Der Bund
6. Das Gesetz
7. Das Gebet und der Gottesdienst, Jerusalem und der Tempel
8. Göttliche Vorwürfe und Urteilssprüche
9. Die Verheißungen

C. Ergebnis

1. Kontinuität
2. Diskontinuität
3. Progression

III. Die juden im Neuen Testament

A. Unterschiedliche Ausprägungen des nachexilischen Judentums

1. Die letzten Jahrhunderte vor Christus
2. Das erste Drittel des 1. Jahrhunderts n. Chr. in Palästina
3. Das zweite Drittel des 1. Jahrhunderts n. Chr
4. Das letzte Drittel des 1. Jahrhunderts

B. Die Juden in den Evangelien und in der Apostelgeschichte

1. Das Matthäusevangelium
2. Das Markusevangelium
3. Das Lukasevangelium und die Apostelgeschichte
4. Das Johannesevangelium
5. Ergebnis

C. Die Juden in den Paulusbriefen und in anderen Schriften des Neuen Testaments

1. Die Juden in den unbestritten echten Paulusbriefen
2. Die Juden in den anderen Briefen
3. Die Juden in der Offenbarung des Johannes

IV. Schlussfolgerungen

A. Allgemeine Schlussfolgerung

B. Pastorale Anregungen



VORWORT

In der Theologie der Kirchenväter war die Frage der inneren Einheit der aus Altem und Neuem Testament bestehenden einen Bibel der Kirche ein zentrales Thema. Dass dies bei weitem nicht nur ein theoretisches Problem war, kann man am geistigen Weg eines der größten Lehrer der Christenheit – des heiligen Augustinus von Hippo – sozusagen handgreiflich wahrnehmen. Augustin hatte als 19-jähriger im Jahr 373 ein erstes einschneidendes Bekehrungserlebnis erfahren. Die Lektüre eines Buches von Cicero – des verloren gegangenen Hortensius – hatte in ihm eine tiefe Wandlung bewirkt, die er selbst aus der Rückschau so beschreibt: »Zu dir, Herr, wandte es meine Gebete ... Ich begann mich zu erheben, um zu dir zurückzukehren ... Wie glühte ich, mein Gott, wie glühte ich, vom Irdischen mich zu erheben zu dir« (conf III 4,81). Für den jungen Afrikaner, der als Kind das Salz empfangen hatte, das ihn zum Katechumenen machte, war klar, dass die Wendung zu Gott eine Wendung zu Christus sein musste, dass er ohne Christus Gott nicht wirklich finden konnte. So ging er von Cicero zur Bibel und erlebte eine furchtbare Enttäuschung: In den schwierigen Gesetzesbestimmungen des Alten Testaments, in seinen verschlungenen und manchmal auch grausamen Geschichten konnte er die Weisheit nicht erkennen, zu der er sich aufmachen wollte. Auf seiner Suche stieß er auf Menschen, die ein neues geistiges Christentum verkündeten – ein Christentum, in dem man das Alte Testament als ungeistlich und widerwärtig verachtete; ein Christentum, dessen Christus das Zeugnis der hebräischen Propheten nicht brauchte. Diese Leute versprachen ein Christentum der einfachen und reinen Vernunft, ein Christentum, in dem Christus der große Erleuchter war, der die Menschen zu einer wahren Selbsterkenntnis führte. Es waren die Manichäer.1

Die große Verheißung der Manichäer erwies sich als trügerisch, aber das Problem war damit nicht gelöst. Zum Christentum der katholischen Kirche konnte Augustin sich erst bekehren, als er durch Ambrosius eine Auslegung des Alten Testaments kennen gelernt hatte, die die Bibel Israels transparent werden ließ auf Christus hin und so das Licht der gesuchten Weisheit in ihr sichtbar machte. Nun wurde nicht nur der äußere Anstoß der unbefriedigenden literarischen Form der altlateinischen Bibel, sondern vor allem der innere Anstoß eines Buches überwunden, das eher als Dokument der Glaubensgeschichte eines bestimmten Volkes mit all seinen Wirrungen und Irrungen denn als Stimme einer alle angehenden, von Gott her kommenden Weisheit erschienen war. Eine solche Lektüre der Bibel Israels, die in deren geschichtlichen Wegen die Transparenz auf Christus und damit die Transparenz auf den Logos, die ewige Weisheit selbst erkannte, war nicht nur für Augustins Glaubensentscheidung grundlegend: Sie war und ist die Grundlage des Glaubensentscheids der Kirche im Ganzen.

Aber ist sie wahr? Ist sie auch heute noch begründbar und vollziehbar? Aus der Perspektive der historisch-kritischen Exegese scheint – jedenfalls für den ersten Blick – alles dagegen zu sprechen. So hat denn 1920 der führende liberale Theologe Adolf von Harnack die These formuliert: »Das AT im zweiten Jahrhundert zu verwerfen (er spielt auf Markion an), war ein Fehler, den die große Kirche mit Recht abgelehnt hat; es im 16. Jahrhundert beizubehalten, war ein Schicksal, dem sich die Reformation nicht zu entziehen vermochte; es aber seit dem 19. Jahrhundert als kanonische, dem NT gleichwertige Urkunde im Protestantismus noch zu konservieren, ist die Folge einer religiösen und kirchlichen Lähmung«.2

Hat Harnack Recht? Zunächst scheint vieles dafür zu sprechen. Wenn die Exegese des Ambrosius für Augustin den Weg zur Kirche eröffnete und – im Einzelnen natürlich durchaus variierbar – in ihrer Grundrichtung zum Fundament des Glaubens an das zweiteilige und doch eine Gotteswort der Bibel wurde, so kann man sofort dagegen sagen: Ambrosius hatte diese Exegese in der Schule des Origenes gelernt, der sie als erster konsequent durchgeführt hat. Origenes aber – so sagt man – habe dabei nur die in der griechischen Welt den religiösen Schriften des Altertums – besonders Homer – gegenüber geübte Methode allegorischer Auslegung auf die Bibel übertragen, also nicht nur eine dem biblischen Wort von innen her fremde Hellenisierung vollzogen, sondern sich einer Methode bedient, die in sich selbst unglaubwürdig war, weil sie letztlich darauf angelegt war, als sakral zu konservieren, was in Wirklichkeit das Zeugnis einer nicht mehr vergegenwärtigungsfähigen Kultur darstellte. Aber so einfach ist es nicht. Origenes konnte mehr noch als auf der Homer-Exegese der Griechen auf der Auslegung des Alten Testaments aufbauen, die im jüdischen Milieu, besonders in Alexandrien und mit Philo als führendem Kopf, entstanden war und auf eine durchaus eigene Weise die Bibel Israels den Griechen zu erschließen versuchte, die längst über die Götter hinaus nach dem einen Gott fragten, den sie in der Bibel finden konnten. Und er hat bei den Rabbinen gelernt. Schließlich hat er durchaus eigene christliche Prinzipien erarbeitet: die innere Einheit der Bibel als Auslegungsmaßstab, Christus als Bezugspunkt aller Wege des Alten Testaments.3

Aber wie immer man die Exegese des Origenes und des Ambrosius im Einzelnen beurteilen mag, ihre letzte Grundlage war weder die griechische Allegorese noch Philo noch die rabbinischen Methoden. Ihre eigentliche Grundlage – jenseits der Details der Interpretation – war das Neue Testament selbst. Jesus von Nazaret hat den Anspruch erhoben, der wahre Erbe des Alten Testaments – der »Schrift« – zu sein und ihm die gültige Auslegung zu geben, Auslegung freilich nicht in der Art der Gelehrten, sondern aus der Autorität des Autors selbst: »Er lehrte wie einer, der (göttliche) Vollmacht hat, nicht wie die Schriftgelehrten« (Mk 1,22). Die Emmausgeschichte fasst diesen Anspruch nochmals zusammen: »Er legte ihnen dar, ausgehend von Mose und allen Propheten, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht« (Lk 24,27). Die neutestamentlichen Schriftsteller haben diesen Anspruch im Einzelnen zu begründen versucht, am nachdrücklichsten Matthäus, aber nicht minder Paulus, der dabei die rabbinischen Interpretationsmethoden nutzte und zu zeigen versuchte, dass gerade diese von den Schriftgelehrten entwickelte Auslegungsform auf Christus als Schlüssel der »Schriften« hinführte. Für die Verfasser und Begründer des Neuen Testaments ist das Alte Testament ja ganz einfach die »Schrift«; erst die werdende Kirche konnte allmählich einen neutestamentlichen Kanon formen, der nun ebenfalls Heilige Schrift bildete, aber doch immer in der Weise, dass er die Bibel Israels, die Bibel der Apostel und ihrer Schüler, die nun erst den Namen Altes Testament empfängt, als solche voraussetzt und den Deutungsschlüssel für sie liefert.

Insofern haben die Kirchenväter mit ihrer christologischen Deutung des Alten Testaments nichts Neues geschaffen, sondern nur entwickelt und systematisiert, was sie im Neuen Testament selbst vorfanden. Diese für den christlichen Glauben grundlegende Synthese musste in dem Augenblick fragwürdig werden, in dem das historische Bewusstsein Auslegungsmaßstäbe entwickelte, von denen her die Exegese der Väter als unhistorisch und daher als sachlich unhaltbar erscheinen musste. Luther hat im Kontext des Humanismus und seines neuen historischen Bewusstseins, vor allem aber im Kontext seiner Rechtfertigungslehre, eine neue Formel für das Zueinander der beiden Teile der christlichen Bibel entwickelt, die nicht mehr auf der inneren Harmonie von Altem und Neuem Testament beruht, sondern auf ihrer heilsgeschichtlich und existentiell wesentlich dialektischen Antithese von Gesetz und Evangelium. Bultmann hat diesen Grundansatz modern in der Formel ausgedrückt, das Alte Testament habe sich in Christus in seinem Scheitern erfüllt. Radikaler ist der eben erwähnte Vorschlag Harnacks, der zwar – so weit ich sehen kann – kaum von jemand aufgegriffen wurde, aber durchaus logisch war von einer Exegese her, für die Texte der Vergangenheit nur jeweils den Sinn haben können, den ihre Autoren ihnen in ihrem historischen Augenblick mit auf den Weg geben wollten. Dass aber die Schriftsteller der vorchristlichen Jahrhunderte, die in den alttestamentlichen Büchern zu Worte kommen, auf Christus und auf den Glauben des Neuen Testaments voraus verweisen wollten, erscheint dem modernen historischen Bewusstsein mehr als unwahrscheinlich. Insofern schien mit dem Sieg der historisch-kritischen Exegese die vom Neuen Testament selbst initiierte christliche Auslegung des Alten Testaments gescheitert. Dies ist, wie wir sahen, nicht eine historische Einzelfrage, sondern die Grundlagen des Christentums selbst stehen dabei zur Debatte. So wird auch klar, warum niemand Harnacks Vorschlag folgen wollte, nun endlich den von Markion lediglich zu früh eingeschlagenen Abschied vom Alten Testament zu vollziehen. Was man dabei übrig ließe, unser Neues Testament, wäre in sich sinnlos, Das hier vorzustellende Dokument der Päpstlichen Bibelkommission sagt darüber: »Sans l'Ancien Testament, le Nouveau Testament serait un livre indéchiffrable, une plante privée de ses racines et destinée à se dessécher«4 (Nr. 84).

An dieser Stelle wird die Größe der Aufgabe sichtbar, vor die sich die Päpstliche Bibelkommission gestellt sah, als sie sich entschied, das Thema des Verhältnisses von Altem und Neuem Testament anzugehen. Wenn es einen Ausweg aus der von Harnack beschriebenen Sackgasse geben soll, muss der Begriff einer heute verantwortbaren Auslegung von historischen Texten, besonders aber von dem als Wort Gottes geglaubten Text der Bibel gegenüber der Sicht der liberalen Gelehrten erweitert und vertieft werden. In dieser Richtung ist in den letzten Jahrzehnten Wichtiges geschehen. Die Päpstliche Bibelkommission hat den wesentlichen Ertrag dieser Erkenntnisse in ihrem 1993 veröffentlichten Dokument »Die Interpretation der Bibel in der Kirche« dargestellt. Die Einsicht in die Mehrdimensionalität menschlicher Rede, die nicht an einem historischen Punkt fixiert ist, sondern in die Zukunft vorausgreift, war eine Hilfe, um besser zu verstehen, wie Gottes Wort sich des Menschenwortes bedienen kann, um einer fortschreitenden Geschichte einen Sinn einzustiften, der über den jeweiligen Augenblick hinausweist, und doch gerade so die Einheit des Ganzen bewirkt. Die Bibelkommission hat unter Aufnahme dieses ihres früheren Dokuments und auf der Basis sorgsamer methodischer Überlegungen die einzelnen großen inhaltlichen Komplexe der beiden Testamente auf ihre Beziehung hin untersucht und zusammenfassend sagen können, dass die christliche Hermeneutik des Alten Testaments, die zweifellos von derjenigen des Judentums unterschieden ist, »correspond cependant à une potentialité de sens effectivement présente dans les textes«5 (Nr. 64). Dies ist ein Ergebnis, das mir für den Fortgang des Gesprächs, aber vor allem auch für die Grundlegung des christlichen Glaubens von hoher Bedeutung zu sein scheint.

Die Bibelkommission konnte aber bei ihrer Arbeit nicht von dem Kontext unserer Gegenwart absehen, in der der Schock der Schoa die ganze Frage in ein anderes Licht getaucht hat. Zwei Hauptprobleme stellten sich: Können die Christen nach allem Geschehenen noch ruhig Anspruch darauf erheben, rechtmäßige Erben der Bibel Israels zu sein? Dürfen sie mit einer christlichen Auslegung dieser Bibel fortfahren, oder sollten sie nicht lieber respektvoll und demütig auf einen Anspruch verzichten, der im Licht des Geschehenen als Anmaßung erscheinen muss? Damit hängt die zweite Frage zusammen: Hat nicht die Darstellung der Juden und des jüdischen Volkes im Neuen Testament selbst dazu beigetragen, eine Feindseligkeit dem jüdischen Volk gegenüber zu schaffen, die der Ideologie derer Vorschub leistete, die Israel auslöschen wollten? Die Kommission hat sich beiden Fragen gestellt. Es ist klar, dass ein Abschied der Christen vom Alten Testament nicht nur, wie vorhin angedeutet, das Christentums selbst aufheben müsste, sondern auch dem positiven Verhältnis zwischen Christen und Juden nicht dienen könnte, weil ihnen eben das gemeinsame Fundament entrissen würde. Was aber aus dem Geschehenen folgen muss, ist ein neuer Respekt für die jüdische Auslegung des Alten Testaments. Das Dokument sagt dazu zweierlei. Zunächst stellt es fest, dass die jüdische Lektüre der Bibel »eine mögliche Lektüre ist, die in Kontinuität mit den heiligen Schriften der Juden aus der Zeit des zweiten Tempels steht und analog ist der christlichen Lektüre, die sich parallel dazu entwickelt hat« (Nr. 22). Sie fügt hinzu, dass die Christen viel lernen können von der 2000 Jahre hindurch praktizierten jüdischen Exegese; umgekehrt können die Christen hoffen, dass die Juden aus den Forschungen christlicher Exegese Nutzen ziehen können (ebd.). Ich denke, das diese Analysen für den Fortgang des christlich-jüdischen Dialogs, aber auch für die innere Formung des christlichen Bewusstseins hilfreich sein werden.

Der Frage nach der Darstellung der Juden im Neuen Testament gilt der letzte Teil des Dokuments, in dem sorgsam die »antijüdischen« Texte ausgeleuchtet werden. Hier möchte ich nur eine mir besonders wichtig erscheinende Einsicht herausheben. Das Dokument zeigt, dass die im Neuen Testament an die Juden gerichteten Vorwürfe nicht häufiger und nicht schärfer sind als die Anklagen gegen Israel im Gesetz und bei den Propheten, also innerhalb des Alten Testaments selbst (Nr. 87). Sie gehören der prophetischen Sprache des Alten Testaments zu und sind daher wie die Prophetenworte zu interpretieren: Sie warnen vor gegenwärtigen Fehlwegen, aber sie sind ihrem Wesen nach immer temporär und setzen so auch immer neue Möglichkeiten des Heils voraus.

Den Mitgliedern der Bibelkommission möchte ich Dank und Anerkennung für ihre Mühen aussprechen. Aus ihrem mehrere Jahre hindurch geduldig geführten Disput ist dieses Dokument gewachsen, das meiner Überzeugung nach für eine zentrale Frage des christlichen Glaubens und für die so wichtige Suche nach einem neuen Verstehen zwischen Christen und Juden eine wichtige Hilfe bieten kann.

Rom, am Fest Christ Himmelfahrt 2001

Joseph Kardinal Ratzinger


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EINFÜHRUNG6

1. In jüngster Zeit sind die Christen zu einem besseren Verständnis der geschwisterlichen Bande gelangt, die sie aufs engste mit dem jüdischen Volk verbinden. Während des Zweiten Weltkriegs (1939-1945) hat das jüdische Volk aufgrund von tragischen Ereignissen, genauer gesagt abscheulichen Verbrechen eine Prüfung unvorstellbaren Ausmaßes durchmachen müssen, die in weiten Teilen Europas selbst seine Existenz in Frage stellte. In diesen geschichtlichen Umständen haben Christen nicht den geistlichen Widerstand geleistet, den man mit Recht von den Jüngern Jesu hätte erwarten können, und nicht die entsprechenden Initiativen ergriffen. Andere Christen sind dagegen den in Gefahr befindlichen Juden zu Hilfe geeilt, nicht selten unter Gefahr für das eigene Leben. Im Gefolge dieser immensen Tragödie sahen sich die Christen vor die Notwendigkeit gestellt, ihre Beziehungen zum jüdischen Volk zu vertiefen. Mit großem Einsatz wurde geforscht und reflektiert. Die Päpstliche Bibelkommission hat es sich zur Aufgabe gemacht, sich im Rahmen ihrer Kompetenz an dieser Anstrengung zu beteiligen. Ihre begrenzte Kompetenz erlaubt es der Kommission selbstverständlich nicht, zu allen geschichtlichen oder aktuellen Aspekten des Problems Stellung zu beziehen; sie beschränkt sich auf den biblischen Gesichtspunkt auf dem heutigen Stand der Forschung.

Die Frage, die sich stellt, ist die folgende: Welche Beziehungen begründet die christliche Bibel zwischen den Christen und dem jüdischen Volk? Die generelle Antwort auf diese Frage liegt auf der Hand: Die christliche Bibel begründet zwischen den Christen und dem jüdischen Volk zahlreiche enge Bande, und zwar aus dem doppelten Grunde, dass sie zum Großteil aus den »heiligen Schriften« (Röm 1,2) des jüdischen Volkes besteht, die die Christen das »Alte Testament« nennen, und dass sie auf der anderen Seite eine Sammlung von Schriften umfasst, die den Glauben an Jesus Christus bekunden und diesen in enge Beziehung zu den Heiligen Schriften des jüdischen Volkes bringen. Diese zweite Schriftengruppe wird bekanntlich »Neues Testament« genannt, in Entsprechung zum »Alten Testament«.

Das Vorhandensein enger Beziehungen lässt sich nicht leugnen. Eine eingehendere Untersuchung der Texte ergibt gleichwohl, dass sich die Beziehungen nicht auf eine einfache Formel bringen lassen; sie weisen vielmehr eine hohe Komplexität auf, die von vollkommener Übereinstimmung in einigen Punkten hin zu einer starken Spannung in anderen reicht. So ist ein eingehenderes Studium unerlässlich. Die Päpstliche Bibelkommission hat sich ihm während der vergangenen Jahre gewidmet. Die Ergebnisse dieser Untersuchung, die selbstverständlich nicht den Anspruch auf eine erschöpfende Erfassung des Gegenstandes erheben, werden hier in drei Kapiteln vorgestellt. Das erste, grundlegende Kapitel stellt fest, dass das Neue Testament die Autorität des Alten Testamentes als göttlicher Offenbarung anerkennt und dass es ohne seine enge Verbindung zu diesem und zu der jüdischen Überlieferung, die es vermittelte, nicht zu verstehen ist. Das zweite Kapitel geht dann mehr im Einzelnen der Art und Weise nach, wie die Schriften des Neuen Testamentes den Gehalt des Alten Testamentes übernehmen, indem sie dessen grundlegende Themen im Lichte Jesu Christi aufgreifen. Das dritte Kapitel verzeichnet schließlich die sehr unterschiedlichen Einstellungen, die die Schriften des Neuen Testaments gegenüber den Juden zum Ausdruck bringen, wobei solche unterschiedlichen Einstellungen bereits im Alten Testament grundgelegt sind.

Die Päpstliche Bibelkommission hofft auf diese Weise den Dialog zwischen Christen und Juden in Klarheit und in wechselseitiger Hochachtung und Zuneigung zu fördern.


I.
DIE HEILIGE SCHRIFT
DES JÜDISCHEN VOLKES
ALS GRUNDLEGENDER BESTANDTEIL
DER CHRISTLICHEN BIBEL

2. Vor allem aufgrund ihres geschichtlichen Ursprungs sieht sich die Gemeinde der Christen mit dem jüdischen Volke verbunden. In der Tat ist derjenige, dem sie ihren Glauben geschenkt hat, Jesus von Nazaret, ein Sohn des jüdischen Volkes. Ebenso sind es die Zwölf, die er ausgewählt hat, »um sie bei sich zu haben und auszusenden, damit sie predigten« (Mk 3,14). Am Anfang galt die apostolische Verkündigung nur den Juden und den Proselyten, also Heiden, die sich der jüdischen Gemeinde angeschlossen hatten (vgl. Apg 2,11). So ist das Christentum im Schoß des Judentums des ersten Jahrhunderts entstanden. Es hat sich dann zunehmend von ihm gelöst, doch kann die Kirche niemals ihre jüdischen Wurzeln vergessen, die so klar im Neuen Testament bezeugt sind; sie erkennt den Juden sogar einen Vorrang zu, denn das Evangelium ist »eine Kraft Gottes, die jeden rettet, der glaubt, zuerst den Juden, und ebenso den Griechen« (Röm 1,16).

Ein ständig aktuelles Zeichen dieses Bandes vom Ursprung her besteht in der Annahme der Heiligen Schriften des jüdischen Volkes durch die Christen als Wort Gottes, das auch an sie gerichtet ist. Die Kirche hat in der Tat alle in der Hebräischen wie in der Griechischen Bibel enthaltenen Bücher als von Gott inspiriert angenommen. Die Bezeichnung »Altes Testament«, die dem Gesamt dieser Schriften verliehen ist, ist ein vom Apostel Paulus geprägter Ausdruck, der die dem Mose zugeschriebenen Schriften meint (vgl. 2 Kor 3,14-15). Sein Sinn wurde seit dem Ende des 2. Jahrhunderts erweitert, um auch andere jüdische Schriften in hebräischer, aramäischer oder griechischer Sprache einzuschließen. Die Bezeichnung »Neues Testament« stammt aus einem Spruch des Jeremiabuches, der einen »Neuen Bund« ankündigt (Jer 31,31). Der Ausdruck erhielt dann im Griechischen der Septuaginta den Sinn von »Neue Verfügung«, »Neues Testament« (kain‘ diath‘k‘). Der Spruch kündigte an, dass Gott vorhabe, einen Neuen Bund zu schließen. Der christliche Glaube sieht diese Verheißung mit der Einsetzung der Eucharistie im Geheimnis Jesu Christi verwirklicht (vg. 1 Kor 11,25; Hebr 9,15). In der Folge hat man eine Gruppe von Schriften »Neues Testament« genannt, die den Glauben der Kirche in seiner Neuheit zum Ausdruck bringen. Von sich aus bringt der Name bereits das Vorhandensein von Beziehungen zum »Alten Testament« zum Ausdruck.



A. Das Neue Testament erkennt die Autorität der Heiligen Schrift des jüdischen Volkes an

3. Die Schriften des Neuen Testamentes geben sich an keiner Stelle als etwas grundlegend Neues aus. Sie erweisen sich vielmehr als tief in der langen Glaubenserfahrung Israels verwurzelt, wie sie sich in unterschiedlicher Form in den Heiligen Büchern widerspiegelt, die die Schrift des jüdischen Volkes ausmachen. Das Neue Testament erkennt diesen eine göttliche Autorität zu. Diese Anerkennung der Autorität der Heiligen Schriften Israels kommt in unterschiedlicher Weise – teils ausdrücklich, teils eher implizit – zum Ausdruck.

1. Implizite Anerkennung der Autorität

Um vom am wenigsten ausdrücklichen Element auszugehen, das dennoch starken Indiziencharakter hat, so lässt sich auf den Gebrauch einer gemeinsamen Sprache verweisen. Das Griechische des Neuen Testaments hängt stark von demjenigen der Septuaginta ab, ob es sich nun um grammatikalische Wendungen handelt, die vom Hebräischen beeinflusst sind, oder um den Wortschatz, vor allem den religiösen. Ohne eine Kenntnis des Griechischen der Septuaginta lässt sich der genauer Sinn vieler wichtiger Ausdrücke im Neuen Testament nicht erfassen.7

Diese sprachliche Verwandtschaft erstreckt sich natürlich auf zahlreiche Ausdrücke, die das Neue Testament aus der Schrift des jüdischen Volkes entlehnt hat, bis hin zu dem häufigen Phänomen von Reminiszenzen und impliziten Zitaten, d. h. ganzen Sätzen, die das Neue Testament übernommen hat, ohne deren Zitatcharakter deutlich zu machen. Die Reminiszenzen zählen zu Hunderten, doch bleibt ihre Eigenart nicht selten Gegenstand von Diskussion. Als schlagendstes Beispiel lässt sich die Offenbarung des Johannes anführen, die kein einziges ausdrückliches Zitat der jüdischen Bibel enthält, aber aus einem dichten Geflecht von Reminiszenzen und Anspielungen besteht. Der Text der Offenbarung des Johannes ist in einem solchen Umfang vom Alten Testament geprägt, dass es oft schwierig ist zu entscheiden, wo eine Anspielung vorliegt und wo nicht.

Was von der Offenbarung des Johannes gilt, das gilt – wenn auch in vermindertem Umfang – von den Evangelien, von der Apostelgeschichte und von den Briefen des Neues Testamentes.8 Der Unterschied besteht nur darin, dass sich in diesen anderen Schriften außerdem zahlreiche ausdrückliche Zitate finden, d. h. Zitate, die als solche eingeführt werden.9 Diese Schriften bekunden also offen ihre Entlehnungen und bezeugen auf diese Weise, dass sie die Autorität der jüdischen Bibel als göttlicher Offenbarung anerkennen.

2. Ausdrücklicher Rückgriff auf die Autorität der Schrift des jüdischen Volkes

4. Diese Anerkennung von Autorität nimmt von Fall zu Fall verschiedene Formen an. Manchmal findet man im Kontext von Offenbarung das einfache Verb legei, »er (oder: sie) sagt«, ohne Angabe des Subjekts10, wie später in den rabbinischen Schriften, aber der Kontext zeigt dann, dass es sich um ein Subjekt handeln muss, das dem Text große Autorität verleiht: die Schrift oder der Herr oder Christus.11 In anderen Fällen wird das Subjekt zum Ausdruck gebracht: es ist »die Schrift«, »das Gesetz« oder »Mose« oder »David«, von dem es heißt, dass er inspiriert war, oder »der Prophet«, oft »Jesaja«, gelegentlich »Jeremia«, aber es ist auch »der Heilige Geist« oder »der Herr«, wie es die Sprüche der Propheten sagten.12 Bei Matthäus findet sich zweimal eine umfassende Formulierung, die zugleich den göttlichen Sprecher und dessen menschliches Sprachrohr zum Ausdruck bringt: »was der Herr durch den Propheten gesagt hat: ...« (Mt 1,22; 2,15). An anderen Stellen bleibt die Nennung des Herrn implizit und wird nur durch die Wahl der Präposition dia »durch« zur Bezeichnung des menschlichen Sprachrohrs angedeutet. In diesen Texten von Matthäus lässt das Verb »sagen« im Präsens die Zitate der jüdischen Bibel als lebendige Worte erscheinen, deren Autorität stets aktuell ist.

Statt des Verbs »Sagen« führt sehr häufig das Verb »Schreiben« die Zitate ein; das verwendete griechische Tempus ist dabei das Perfekt und damit eine Zeitstufe, die die bleibende Wirkung einer vergangenen Handlung umschreibt: gegraptai »es ist geschrieben worden«, was jetzt heißt: »es steht geschrieben«. Dieses gegraptai besitzt große Kraft. Jesus hält es siegreich dem Versucher entgegen ohne weitere Verdeutlichung beim ersten mal: »Es steht geschrieben: Der Mensch lebt nicht nur von Brot ...« (Mt 4,4; Lk 4,4), mit Zusatz eines palin »jedoch« beim zweiten mal (Mt 4,7) und eines gar »denn« beim dritten mal (Mt 4,10). Dieses »denn« verdeutlicht den argumentativen Wert des alttestamentlichen Textes, der in den beiden ersten Fällen implizit enthalten war. Es kann vorkommen, dass ein biblischer Text keine endgültige Geltung besitzt und dementsprechend einer neuen Anordnung weichen muss; in solchen Fällen benutzt das Neue Testament den griechischen Aorist, der die betreffende Äußerung der Vergangenheit zuweist. Dieser Fall liegt bei dem Gesetz des Mose bezüglich der Ehescheidung vor: »Nur weil ihr so hartherzig seid, hat er (Mose) für euch dieses Gebot geschrieben (egrapsen)« (Mk 10,5; vgl. auch Lk 20,28).

5. Sehr häufig benutzt das Neue Testament Texte der jüdischen Bibel argumentativ, und zwar sowohl mit dem Verb »Sagen« als auch mit dem Verb »Schreiben«. Man findet gelegentlich: »Denn es ist gesagt...«13 und häufiger »denn es steht geschrieben ...«.14 Die Formeln »denn es steht geschrieben«, »weil geschrieben steht«, »wie geschrieben steht« sind im Neuen Testament sehr häufig; allein im Römerbrief begegnet man ihnen-17mal.

In seinen Lehrdebatten stützt sich Paulus ständig auf die Schriften seines Volkes. Paulus trifft eine klare Unterscheidung zwischen Schriftargumenten und Erwägungen »nach Menschenart«. Den Schriftargumenten schreibt er eine Geltung zu, die nicht in Frage gestellt werden kann.15 Für ihn besitzt auch die jüdische Schrift einen stets aktuellen Wert für das geistliche Leben der Christen: »Alles, was einst geschrieben worden ist, ist zu unserer Belehrung geschrieben, damit wir durch Geduld und den Trost der Schrift Hoffnung haben«.16

Einer Argumentation, die sich auf die Schrift des jüdischen Volkes stützt, erkennt das Neue Testament einen entscheidenden Wert zu. Im Vierten Evangelium erklärt Jesus diesbezüglich, dass »die Schrift nicht aufgehoben werden kann« (Joh 10,35). Ihre Geltung leitet sich daraus ab, dass sie »Wort Gottes« ist (ebd.). Diese Überzeugung kommt durchgehend zum Ausdruck. Zwei Texte sind hier besonders aufschlussreich, da sie von göttlicher Inspiration sprechen. Im Zweiten Brief an Timotheus findet sich nach einer Erwähnung der »Heiligen Schriften« (3,15) diese Feststellung: »Jede von Gott eingegebene (theopneustos) Schrift ist auch nützlich zur Belehrung, zur Widerlegung, zur Besserung, zur Erziehung in der Gerechtigkeit; so wird der Mensch Gottes zu jedem guten Werk bereit und gerüstet sein« (2 Tim 3,16-17). Deutlicher mit Bezug auf die im Alten Testament enthaltenen Prophetenworte erklärt der Zweite Petrusbrief: »Bedenkt dabei vor allem dies: Keine Weissagung der Schrift darf eigenmächtig ausgelegt werden; denn niemals wurde eine Weissagung ausgesprochen, weil ein Mensch es wollte, sondern vom Heiligen Geist getrieben haben Menschen im Auftrag Gottes geredet« (2 Petr 1,20-21). Diese beiden Texte beschränken sich nicht darauf, die Autorität der Schrift des jüdischen Volkes herauszustellen; sie begründen sie auch mit dem Hinweis auf deren Inspiration.



B. Das Neue Testament erklärt seine Übereinstimmung mit der Schrift des jüdischen Volkes

6. Eine doppelte Überzeugung bekundet sich in anderen Texten: auf der einen Seite muss sich notwendigerweise erfüllen, was in der Schrift des jüdischen Volkes geschrieben steht, denn hier tut sich der Wille Gottes kund, den keine Macht aufhalten kann; auf der anderen Seite entsprechen Leben, Tod und Auferstehung Christi vollständig dem Wort dieser Schrift.

1. Notwendigkeit der Erfüllung der Schrift

Der klarste Ausdruck der ersten Überzeugung findet sich in den Worten, die der auferstandene Jesus im Lukasevangelium an seine Jünger richtet: »Das sind die Worte, die ich zu euch gesagt habe: Alles muss (dei) in Erfüllung gehen, was im Gesetz des Mose, bei den Propheten und in den Psalmen über mich gesagt ist« (Lk 24,44). Diese Feststellung enthüllt den Grund der Notwendigkeit des Ostergeheimnisses Jesu, einer Notwendigkeit, die auch sonst in zahlreichen Abschnitten der Evangelien zum Ausdruck kommt: »Der Menschensohn muss viel leiden [...] und nach drei Tagen auferstehen«;17 »wie würde dann aber die Schrift erfüllt, nach der es so geschehen muss?« (Mt 26,54); »An mir muss sich das Schriftwort erfüllen« (Lk 22,37).

Da sich unbedingt erfüllen »muss«, was im Alten Testament geschrieben steht, treten die Ereignisse auch ein, damit sich dies erfülle. Dies wird häufig von Matthäus hervorgehoben, zunächst in der Kindheitsgeschichte, dann im öffentlichen Leben Jesu18 und für das gesamte Leiden Jesu (Mt 26,56). Markus hat eine Entsprechung zu dieser letzten Stelle in einem kraftvollen unvollständigen Satz: »Aber (das ist geschehen), damit die Schrift in Erfüllung geht« (Mk 14,49). Lukas gebraucht solche Wendungen nicht, doch Johannes greift ebenso oft wie Matthäus auf sie zurück.19 Dieser Nachdruck der Evangelien auf dem Ziel der Ereignisse, »damit die Schrift in Erfüllung ginge«,20 verleiht der Schrift des jüdischen Volkes eine außerordentliche Bedeutung. Er lässt deutlich erkennen, dass die Ereignisse keine Bedeutung hätten, wenn sie nicht dem Wort der Schrift entsprächen. Es würde sich dann nicht um die Verwirklichung des göttlichen Ratschlusses handeln.

2. Entsprechung zur Schrift

7. Andere Texte heben hervor, dass alles im Geheimnis Christi der Schrift des jüdischen Volkes entspricht. Die ursprüngliche christliche Verkündigung ließ sich in die von Paulus berichtete kerygmatische Formel zusammenfassen: »Ich habe euch vor allem überliefert, was auch ich empfangen habe: Christus ist für unsre Sünden gestorben, gemäß der Schrift, und ist begraben worden. Er ist am dritten Tag auferweckt worden, gemäß der Schrift, und erschien ...« (1 Kor 15,3-5). Paulus fügt hinzu: »Ob nun ich verkündige oder die anderen: das ist unsere Botschaft, und das ist der Glaube, den ihr angenommen habt« (1 Kor 15,11). Der christliche Glaube stützt sich demnach nicht einfach auf bestimmte Ereignisse, sondern auf die Entsprechung dieser Ereignisse zur Offenbarung, wie sie in der Schrift des jüdischen Volkes enthalten ist. Auf dem Wege zu seinem Leiden sagt Jesus: »Der Menschensohn muss seinen Weg gehen, wie die Schrift über ihn sagt« (Mt 26,24; Mk 14,21). Nach seiner Auferstehung gebraucht übernimmt Jesus es selbst, »darzulegen, was in der gesamten Schrift über ihn geschrieben steht«.21 Paulus ruft in seiner Predigt an die Juden von Antiochien in Pisidien diese Ereignisse in Erinnerung mit den Worten: »Die Einwohner von Jerusalem und ihre Führer haben Jesus nicht erkannt, aber sie haben die Worte der Propheten, die an jedem Sabbat vorgelesen werden, erfüllt und haben ihn verurteilt« (Apg 13,27). Durch solche Aussagen zeigt sich das Neue Testament unauflöslich mit der Schrift des jüdischen Volkes verbunden.

Fügen wir hier einige Feststellungen hinzu, die es verdienen, beachtet zu werden. Im Matthäusevangelium beansprucht ein Wort Jesu eine vollständige Kontinuität zwischen der Thora und dem Glauben der Christen: »Denkt nicht, ich sei gekommen, um das Gesetz und die Propheten aufzuheben. Ich bin nicht gekommen, um aufzuheben, sondern um zu erfüllen« (Mt 5,17). Diese theologische Feststellung ist charakteristisch für Matthäus und seine Gemeinde. Sie steht in Spannung zur Relativierung der Beobachtung des Sabbats (Mt 12,8.12) und der kultischen Reinheit (Mt 15,11) in anderen Herrenworten.

Im Lukasevangelium beginnt das öffentliche Leben Jesu mit einer Episode, in der sich Jesus zur Umschreibung seiner Sendung eines Wortes aus dem Jesajabuch bedient (Lk 4,17-21; Jes 61,1-2). Der Schluss des Evangeliums erweitert die Perspektive, indem er davon spricht, das sich »alles, was geschrieben steht«, an Jesus erfüllen müsse (Lk 24,44).

Wie wichtig es nach Jesus ist, »Mose und die Propheten zu hören«, zeigen in eindrucksvoller Weise die letzten Verse der Parabel von Lazarus und dem reichen Prasser (Lk 16,29-31): ohne diese aufmerksame Hörbereitschaft nützen die größten Wunder nichts.

Das Vierte Evangelium bietet eine ähnliche Sicht: hier schreibt Jesus sogar den Schriften des Mose eine Autorität als Vorläufer seiner eigenen Worte zu, wenn er zu seinen Gegnern sagt: »Wenn ihr seinen Schriften nicht glaubt, wie könnt ihr dann meinen Worten glauben?« (Joh 5,47). In einem Evangelium, in dem Jesus in Anspruch nimmt, dass seine Worte »Geist und Leben« sind, verleiht ein solcher Satz der Thora eine herausragende Bedeutung.

In der Apostelgeschichte sehen die Missionsreden der Kirchenführer – Petrus, Philippus, Paulus und Barnabas, Jakobus – das Leiden Jesu, die Auferstehung, Pfingsten und die missionarische Öffnung der Kirche in vollkommener Kontinuität mit der Schrift des jüdischen Volkes.22

3. Übereinstimmung und Unterschied

8. Der Hebräerbrief spricht zwar an keiner Stelle ausdrücklich die Autorität der Schrift des jüdischen Volkes aus, doch zeigt er eindeutig, dass er diese Autorität anerkennt, da er unablässig ihre Texte anführt, um seine Lehren und seine Ermahnungen zu begründen. Der Brief enthält zahlreiche Feststellungen, die als mit den Propheten übereinstimmend dargestellt werden, aber auch andere, bei denen die Übereinstimmung auch einige Aspekte der Nicht-Übereinstimung enthält. Dies war bereits bei den Paulusbriefen der Fall gewesen. Im Römer- wie im Galaterbrief argumentiert der Apostel mit Berufung auf das Gesetz, um zu zeigen, dass der Glaube an Christus die Herrschaft des Gesetzes beendet hat. Er zeigt, dass das Gesetz als Offenbarung sein eigenes Ende als heilsnotwendiger Institution angekündigt hat.23 Der aufschlussreichste Satz ist diesbezüglich Röm 3,21, wo der Apostel erklärt, dass die Offenbarung der Gerechtigkeit Gottes durch den Glauben an Christus »unabhängig vom Gesetz« Ereignis geworden ist, freilich »bezeugt vom Gesetz und den Propheten«. In ähnlicher Weise zeigt der Hebräerbrief, wie das Geheimnis Christi die Prophetenworte und den vorausweisenden Aspekt der Schrift des jüdischen Volkes zur Erfüllung bringt, aber zur gleichen Zeit auch einen Aspekt der Nicht-Übereinstimmung mit den alten Institutionen mit sich bringt: nach der Ankündigung von Ps 109(110),1.4 überragt die Stellung des verherrlichten Christus als solche das levitische Priestertum (vgl. Hebr 7,11.28).

Die Grundaussage bleibt die gleiche. Die Schriften des Neuen Testamentes erkennen an, dass die Schrift des jüdischen Volkes eine bleibende Bedeutung als göttliche Offenbarung besitzt. Sie sind ihr gegenüber positiv eingestellt, indem sie sie als Grundlage ansehen, auf die sie sich stützen. Demzufolge hat die Kirche stets festgehalten, dass die Schrift des jüdischen Volkes integraler Bestandteil der christlichen Bibel ist.



C. Schrift und mündliche Überlieferung im Judentum und Christentum

9. »Heilige Schrift« und mündliche Überlieferung bilden in vielen Religionen eine Spannungseinheit. Diese lässt sich sowohl in den fernöstlichen Religionen (Hinduismus, Buddhismus) als auch im Islam aufzeigen. Die schriftlichen Texte können die Überlieferung niemals voll ausschöpfen. So kommt es zu Ergänzungen oder Neuinterpretationen, die ihrerseits früher oder später Schriftform annehmen. Dabei sind freilich solchen Ergänzungen oder alternativen Deutungen Grenzen gesetzt. Dies lässt sich im Judentum wie im Christentum beobachten, wobei es Überschneidungen und Berührungen gibt. Besitzen doch beide Glaubensgemeinschaften einen wenigstens zum Teil identischen Kanon heiliger Bücher.

1. Schrift und Überlieferung im Alten Testament und im Judentum

Überlieferung führt zur Schrift. Über die Entstehung der Texte des Alten Testaments und die Geschichte der Kanonbildung ist den letzten Jahren viel gearbeitet worden. Es wurde ein gewisser Konsens darüber erreicht, dass der langsame Prozess der Bildung des Kanons der hebräischen Bibel gegen Ende des ersten Jahrhunderts unserer Zeitrechnung praktisch zum Abschluss kam. Dieser Kanon umfasste die Thora, die Propheten und den Großteil der sog. »Schriften«. Die Schriftwerdung der einzelnen Bücher liegt oft im Dunklen. Manchmal sind wir hier nur auf Vermutungen angewiesen. Diese stützen sich vor allem auf die Ergebnisse der Form-, der Überlieferungs- und der Redaktionskritik. So liegen den Anweisungen der Thora ältere Sammlungen zugrunde, die schrittweise Eingang in die Bücher des Pentateuch fanden. Überlieferte Erzählungen nahmen ihrerseits schriftliche Gestalt an und wurden gesammelt. Sie wurden mit Verhaltensregeln verbunden. Prophetenworte wurden gesammelt und schrittweise zu Prophetenbüchern zusammengestellt. Das gleiche gilt von Weisheitssprüchen und –sammlungen, Psalmen und Lehrerzählungen der späteren Zeit.

Weitere Überlieferung führt zu einer »Zweitschrift« (Mischna). Kein schriftlicher Text ist imstande, den ganzen Reichtum einer Überlieferung zum Ausdruck zu bringen.24 Die heiligen Texte der Bibel lassen viele Fragen zum rechten Verständnis des Glaubens Israels und zum rechten sittlichen Verhalten offen. Dies hat im pharisäischen und rabbinischen Judentum zu einem langen Prozess der Entstehung schriftlicher Texte geführt, von der »Mischna« (»Zweitschrift«), die zu Beginn des 3. Jahrhunderts durch Jehuda ha-Nasi redigiert wurde, über die »Tosefta« (»Ergänzung«) bis zum Talmud in seiner doppelten Form (von Babylon und von Jerusalem). Trotz ihrer Autorität wurde diese Interpretation ihrerseits in der Folgezeit als nicht ausreichend erachtet, so dass es zur Hinzufügung weiterer rabbinischer Erläuterungen kam. Diesen Zusätzen wurde nicht die gleiche Autorität wie dem Talmud zuerkannt, bei dessen Interpretation sie nur helfen sollten. Für die darüber hinaus offen bleibenden Fragen unterwirft man sich den Entscheidungen des Großrabbinats.

So kann der schriftliche Text zu weiteren Entwicklungen führen. Dabei bleibt es bei einem Spannungsverhältnis zwischen Schrift und Tradition.

Grenzen der Tradition. Verbindliche Tradition, die in Schriftform der Schrift hinzugefügt wurde, erlangt freilich nicht als solche die gleiche Autorität wie die Schrift. Sie gehört nicht zu den »Schriften, die die Hände verunreinigen«, d. h. den »Heiligen Schriften« und damit jenen, die als solche in der Liturgie verlesen werden. Mischna, Tosefta und Talmud haben ihren Platz in der Synagoge als Lehrhaus, aber sie werden nicht im Gottesdienst verlesen. Im Allgemeinen bemisst sich der Wert einer Überlieferung am Grad ihrer Übereinstimmung mit der Thora. Deren Verlesung hat einen privilegierten Platz innerhalb der synagogalen Liturgie. Sie wird ergänzt durch ausgewählte Lesungen aus den Propheten. Nach einer alten jüdischen Glaubensüberzeugung wurde die Thora vor der Grundlegung der Welt geschaffen. Die Samaritaner erkannten nur sie als Heilige Schrift an. Die Sadduzäer verwarfen ihrerseits jede normative Überlieferung außerhalb des Gesetzes und der Propheten. Nach dem pharisäischen und rabbinischen Judentum gibt es freilich neben dem geschriebenen Gesetz ein mündliches, das dem Mose gleichzeitig verliehen wurde und das die gleiche Autorität besitzt. Dies hält ein Traktat der Mischna fest: »Auf dem Sinai empfing Mose das mündliche Gesetz, und er überlieferte es dem Josue, Josue den Ältesten, die Ältesten den Propheten, und die Propheten überlieferten es den Mitgliedern der Großen Synagoge« (Abot 1,1). So zeigt sich im Verständnis der Überlieferung ein beachtliches Spektrum von Meinungen.

2. Schrift und Überlieferung im Urchristentum

10. Überlieferung führt zur Schrift. Im Christentum lässt sich eine analoge Entwicklung beobachten wie im Judentum, freilich mit einem grundlegenden Unterschied: die Christen besaßen von Anfang an eine Heilige Schrift, da sie als Juden die Bibel Israels als Schrift anerkannten. Diese war sogar zunächst die einzige Schrift, die sie anerkannten. Doch kam für sie eine mündliche Überlieferung hinzu, »die Lehre der Apostel« (Apg 2,42), die die Worte Jesu und den Bericht über die Ereignisse, die ihn betrafen, enthielt. Die Evangeliumskatechese nahm erst nach und nach Gestalt an. Um ihre getreue Übermittlung zu sichern, hielt man Worte Jesu und Erzählungen über ihn schriftlich fest. So wurde die Redaktion der Evangelien vorbereitet, die erst einige Jahrzehnte nach Tod und Auferstehung Jesu stattfand. Auf der anderen Seite kam es zur Abfassung von Glaubensformeln und liturgischen Hymnen, die ihren Eingang in die Briefe des Neuen Testaments fanden. Die Briefe des Paulus und anderer Apostel oder anderer führender Persönlichkeiten wurden in der Adressatengemeinde verlesen (vgl. 1 Thess 5,27), dann auch an andere Gemeinden weitergeleitet (vgl. Kol 4,16), aufbewahrt zur Wiederverlesung bei anderen Gelegenheiten und schließlich als Schrift angesehen (vgl. 2 Petr 3,15-16) und den Evangelien hinzugefügt. So bildete sich schrittweise der Kanon des Neuen Testaments innerhalb der apostolischen Überlieferung.

Die Überlieferung ergänzt die Schrift. Das Christentum teilt mit dem Judentum die Überzeugung, dass die göttliche Offenbarung nie zur Gänze in schriftlichen Texten zum Ausdruck gelangen kann. Diese Überzeugung bekundet sich am Schluss des Vierten Evangeliums, wo es heißt, dass die ganze Welt die Bücher nicht fassen könne, die geschrieben werden müssten, um alles zu erzählen, was Jesus getan hat (Joh 21,25). Auf der anderen Seite ist die lebendige Überlieferung unerlässlich zur Verlebendigung und Aktualisierung der Schrift.

Hierhin gehört ein Verweis auf die Unterweisung der Abschiedsreden über die Rolle des »Geistes der Wahrheit« nach dem Scheiden Jesu. Dieser wird die Jünger an alles erinnern, was Jesus gesagt hat (Joh 14,26), Zeugnis über ihn ablegen (15,26) und die Jünger »in alle Wahrheit einführen« (16,13), indem er ihnen ein tieferes Verständnis der Person Christi, seiner Botschaft und seines Werkes schenkt. Dank der Wirkung des Geistes bleibt die Überlieferung lebendig und dynamisch.

Das Zweite Vatikanische Konzil erklärt, dass die apostolische Predigt »in den inspirierten Büchern besonders deutlichen Ausdruck gefunden hat (,speciali modo exprimitur')«. Durch die Überlieferung »werden die Heiligen Schriften selbst tiefer verstanden und unaufhörlich wirksam gemacht« (Dei Verbum 8). Die Schrift wird definiert als »Gottes Rede, insofern sie unter dem Anhauch des Heiligen Geistes schriftlich aufgezeichnet wurde«; die Überlieferung »gibt das Wort Gottes, das von Christus dem Herrn und vom Heiligen Geist den Aposteln anvertraut wurde, unversehrt an deren Nachfolger weiter, damit sie es unter der erleuchtenden Führung des Geistes der Wahrheit in ihrer Verkündigung treu bewahren, erklären und ausbreiten« (DV 9). Das Konzil stellt abschließend fest: »Daher sollen beide [Schrift und Tradition] mit gleicher Liebe und Achtung angenommen und verehrt werden« (DV 9).

Grenzen einer hinzukommenden Überlieferung. In welchem Maße kann es in der christlichen Kirche eine Überlieferung geben, die inhaltlich über das Wort der Schrift hinausgeht? Diese Frage ist im Laufe der Theologiegeschichte lange erörtert worden. Das Zweite Vatikanische Konzil scheint sie offen gelassen zu haben, aber es hat sich zumindest geweigert, bei Schrift und Tradition von »zwei Offenbarungsquellen« zu sprechen; es hat vielmehr festgehalten, dass »die Heilige Überlieferung und die Heilige Schrift ... den einen der Kirche überlassenen Schatz des Wortes Gottes (bilden)« (Dei Verbum 10). So hat das Konzil den Gedanken einer von der Schrift völlig unabhängigen Überlieferung verworfen. In einem Punkte erwähnt das Konzil gleichwohl einen unabhängigen Beitrag der Überlieferung, und zwar in einem äußerst wichtigen Punkt: durch die Überlieferung »wird der Kirche der vollständige Kanon der Heiligen Bücher bekannt« (DV 8). So sieht man, wie Schrift und Überlieferung voneinander untrennbar sind.

3. Beziehung zwischen den beiden Perspektiven

11. Wie sich zeigte, weist das Verhältnis von Schrift und Überlieferung im Judentum und im Christentum formale Übereinstimmungen auf. In einem Punkte gibt es sogar mehr als nur Übereinstimmung, denn beide Religionen begegnen sich im gemeinsamen Erbe der »Heiligen Schrift Israels«.25

Vom hermeneutischen Gesichtspunkt aus unterscheiden sich freilich die Perspektiven. Für alle Richtungen des Judentums zur Zeit der Bildung des Kanons stand das Gesetz im Mittelpunkt. In ihm sind die wesentlichen, von Gott geoffenbarten Institutionen festgehalten, die das religiöse, sittliche, rechtliche und politische Leben des jüdischen Volkes nach dem Exil regeln sollten. Die Sammlung der Propheten enthält göttlich inspirierte Worte, die von den Propheten als authentisch überliefert werden, aber kein Gesetz, das als Grundlage für die Institutionen dienen könnte. Unter dieser Rücksicht ist sie von sekundärer Bedeutung. Die »Schriften« des hebräischen Kanons bestehen weder aus Gesetzen noch aus Prophetensprüchen und stehen dementsprechend in ihrem Rang erst an dritter Stelle.

Diese hermeneutische Perspektive wurde von den christlichen Gemeinden nicht übernommen, vielleicht mit Ausnahme judenchristlicher Kreise, die durch ihre Ehrfurcht vor dem Gesetz dem pharisäischen Judentum verbunden waren. Ganz allgemein neigt das Neue Testament dazu, den prophetischen Texten mehr Bedeutung einzuräumen, insofern sie das Geheimnis Christi ankündigen. Der Apostel Paulus und der Hebräerbrief scheuen sich nicht, gegen das Gesetz zu polemisieren. Im Ubrigen zeigt das Urchristentum Berührungen mit den Zeloten, mit der apokalyptischen Bewegung und mit den Essenern, Strömungen, mit denen es die apokalyptische Messiaserwartung teilt; vom hellenistischen Judentum hat es eine erweiterte Schriftensammlung und eine stärker weisheitliche Ausrichtung übernommen, die interkulturelle Beziehungen fördert.

Was das Urchristentum freilich von all diesen Richtungen unterscheidet, ist die Überzeugung, dass die eschatologischen Verheißungen der Propheten nicht einfach nur für die Zukunft gelten, sondern dass ihre Erfüllung in Jesus von Nazaret, dem Christus, bereits begonnen hat. Er ist es, von dem die Schrift des jüdischen Volkes letztlich spricht, welchen Umfang dieser Schrift man auch immer voraussetzt, und in seinem Licht muss diese Schrift gelesen werden, damit sie in ihrem vollen Sinn erfasst werden kann.



D. Im Neuen Testament angewandte jüdische Methoden der Exegese

1. Jüdische Methoden der Exegese

12. Das Judentum entnahm seine Vorstellung von Gott, von der Welt und vom Heilsplan Gottes der Schrift. Das beste Anschauungsmaterial für die Weise, wie die Zeitgenossen Jesu die Schrift verstanden, liefern uns die Handschriften vom Toten Meer. Sie wurden zwischen dem 2. Jahrhundert v. Chr. und dem Jahre 60 n. Chr. aufgeschrieben und damit in einem Zeitraum, der sich in etwa mit dem öffentlichen Leben Jesu und der Bildung der Evangelien deckt. Dabei muss freilich im Auge behalten werden, dass diese Dokumente nur einen Aspekt der jüdischen Überlieferung belegen; sie stammen aus einem Sonderbereich innerhalb des Judentums und können dieses als Ganzes nicht dokumentieren.

Der älteste Beleg für die rabbinische Exegese, der sich im Ubrigen auf Texte des Alten Testamentes stützt, ist eine Reihe von sieben »Regeln«, die der Überlieferung gemäß Rabbi Hillel (gestorben im Jahre 10 n. Chr.) zugeschrieben werden. Ob diese Zuschreibung nun zutrifft oder nicht: auf jeden Fall bilden diese sieben Middot einen Kodex zeitgenössischer Weisen, mit Schrifttexten zu argumentieren, vor allem um daraus zu verbindlichen Handlungsanweisungen zu gelangen.

Eine weitere Weise des Schriftgebrauchs finden wir bei den jüdischen Historikern des 1. Jahrhunderts, vor allem bei Josephus, freilich bereits auch im Alten Testament selbst. Sie besteht darin, bestimmte Ereignisse unter Rückgriff auf biblische Ausdrücke zu beschreiben und sie von daher auch zu deuten. So wird die Rückkehr aus dem babylonischen Exil mit Ausdrücken beschrieben, die an die Befreiung aus der ägyptischen Unterdrückung zur Zeit des Exodus erinnern (Jes 43,16-21). Die endgültige Wiederherstellung Zions wird in den Farben eines neuen Eden beschrieben.26 In Qumran kommt eine ähnliche Technik der Auslegung wiederholt zur Anwendung.

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Inserito 01/01/1970