Botschaft Von Johannes Paul II. zum 60. Jahrestag der Befreiung der Gefangenen Des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau

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Johannes Paul II

Città del Vaticano       15/01/2005

Sechzig Jahre sind nunmehr seit der Befreiung der Gefangenen des Vernichtungslagers Auschwitz-Birkenau vergangen. Aus diesem Anlaß kann man nicht umhin, in Gedanken an jenes Drama zurückzukehren, das dort als tragische Folge organisierten Hasses stattgefunden hat. In diesen Tagen heißt es der vielen Millionen Menschen zu gedenken, die ohne jede Schuld unmenschliche Qualen ertrugen und in den Gaskammern und Krematorien vernichtet wurden. Ich neige mein Haupt vor all denen, die diese Manifestation des mysterium iniquitatis erfahren haben.

Als ich im Jahre 1979 als Papst und Pilger das Lager von Auschwitz-Birkenau besuchte, verweilte ich vor den Gedenktafeln der Opfer. In verschiedenen Sprachen waren die Inschriften gehalten: Polnisch, Englisch, Bulgarisch, Roma-Sprache, Tschechisch, Dänisch, Französisch, Griechisch, Hebräisch, Jiddisch, Spanisch, Flämisch, Serbokroatisch, Deutsch, Norwegisch, Russisch, Rumänisch, Ungarisch und Italienisch. In all diesen Sprachen war die Erinnerung an die Opfer von Auschwitz niedergeschrieben, die Erinnerung an konkrete Menschen, obschon oft völlig unbekannt, an Männer, Frauen und Kinder. Ein wenig länger verweilte ich dann bei der Gedenktafel in hebräischer Schrift. Ich sagte: „Diese Inschrift weckt die Erinnerung an das Volk, dessen Söhne und Töchter zur völligen Vernichtung bestimmt sein sollten. Dieses Volk hat seinen Ursprung in Abraham, der auch unser Vater im Glauben ist (vgl. Röm 4, 11-12), wie es Paulus von Tarsus ausgedrückt hat. Gerade dieses Volk, das von Gott das Gebot empfangen hat: »Du sollst nicht töten«, hat an sich selbst in besonderer Weise erfahren, was das Töten bedeutet. An dieser Gedenktafel mit Gleichgültigkeit vorbeizugehen ist niemandem erlaubt.“

Heute wiederhole ich diese Worte. Niemandem ist es erlaubt, an der Tragödie der Schoah vorbeizugehen. Dieser Versuch, ein ganzes Volk planmäßig zu vernichten, liegt wie ein Schatten über Europa und der ganzen Welt; es ist ein Verbrechen, das für immer die Geschichte der Menschheit befleckt. Heute zumindest und für die Zukunft gelte dies als Mahnung: Man darf nicht nachgeben gegenüber den Ideologien, die die Möglichkeit rechtfertigen, die Menschenwürde aufgrund der Verschiedenheit von Rasse, Hautfarbe, Sprache oder Religion mit Füßen zu treten. Diesen Appell richte ich an alle, insbesondere an diejenigen, die im Namen der Religion zu Unterdrückung und Terrorismus greifen.

Auf besondere Weise haben mich diese Gedanken begleitet, als im Jahr des Großen Jubiläums 2000 die Kirche den feierlichen Bußgottesdienst in St. Peter beging und ich zu den Heiligen Stätten pilgerte und nach Jerusalem hinaufstieg. In der Schoah-Gedenkstätte Yad Vashem und zu Füßen der Westmauer des Tempels habe ich in Stille gebetet mit der Bitte um Vergebung und um die Bekehrung der Herzen.

Ich erinnere mich, daß ich 1979 auch vor zwei weiteren Gedenktafeln in Russisch und in der Sprache der Roma stehen blieb, um tief nachzudenken. Die Geschichte der Teilnahme der Sowjetunion an jenem Krieg ist komplex, doch es ist unmöglich, nicht daran zu erinnern, daß die Russen damals die höchste Zahl an Menschen hatten, die auf tragische Weise ihr Leben verloren haben. Nach Hitlers Plänen waren auch die Roma zur völligen Vernichtung bestimmt. Man darf das Lebensopfer, das von diesen unseren Brüdern im Vernichtungslager Auschwitz-Birkenau verlangt wurde, nicht unterbewerten. Das ist der Grund, warum ich neuerlich dazu ermahne, an jenen Gedenktafeln nicht mit Gleichgültigkeit vorbeizugehen.

Schließlich blieb ich vor der Gedenktafel in polnischer Sprache stehen. Damals sagte ich, daß die Erfahrung von Auschwitz eine weitere „Etappe im jahrhundertelangen Kampf dieser Nation, meiner Nation, zur Verteidigung seiner Grundrechte unter den Völkern Europas“ darstellte. „Es war ein weiterer Ruf, der erhoben wurde, um das Recht auf einen eigenen Platz auf der Karte Europas zu verteidigen; eine weitere schmerzliche Rechnung im Bewußtsein der Menschheit.“ Die Feststellung dieser Wahrheit war nichts anderes als ein Anruf an die Gerechtigkeit der Geschichte für diese Nation, die bei der Befreiung des europäischen Kontinents von der unheilvollen Nazi-Ideologie des Bösen viele Opfer auf sich genommen hatte und die in Knechtschaft an eine andere zerstörerische Ideologie verkauft wurde: den Sowjetkommunismus. Heute komme ich auf diese Worte zurück – ich will sie nicht leugnen! –, um Gott Dank zu sagen, denn durch die beharrlichen Anstrengungen meiner Landsleute hat Polen den rechten Platz auf der Karte Europas gefunden. Es ist mein Wunsch, daß dieses geschichtliche Faktum für alle Europäer Frucht bringe in einer gegenseitigen geistigen Bereicherung.

Bei meinem Besuch in Auschwitz-Birkenau sagte ich auch, daß man vor jeder Gedenktafel stehen bleiben müsse. Ich selbst tat es, als ich betend und meditierend von einer Gedenktafel zur anderen schritt und alle Opfer, Angehörige der von den Greueltaten des Krieges heimgesuchten Nationen, der Göttlichen Barmherzigkeit anempfahl. Ich betete auch, um auf ihre Fürsprache die Gabe des Friedens für die Welt zu erhalten. Unablässig bete ich weiter im Vertrauen, daß, wie die Umstände auch immer sein mögen, die Achtung vor der Würde der menschlichen Person siegen wird, die Achtung vor dem Recht eines jeden Menschen auf eine freie Suche nach Wahrheit, vor der Befolgung der moralischen Normen, vor der Erfüllung der Gerechtigkeit und der Einhaltung des Rechts jedes einzelnen auf menschenwürdige Lebensbedingungen (vgl. Johannes XXIII., Enzyklika Pacem in terris: AAS 55 [1963], 295-296).

Wenn ich von den Opfern von Auschwitz spreche, kann ich nicht umhin, daran zu erinnern, daß es inmitten dieser unbeschreiblichen Anhäufung des Bösen auch heldenhafte Äußerungen des Festhaltens am Guten gab. Gewiß gab es viele Menschen, die es in der Freiheit des Geistes annahmen, dem Leid ausgesetzt zu werden, und nicht nur den Mitgefangenen, sondern auch den Peinigern gegenüber Liebe zeigten. Viele taten dies aus Liebe zu Gott und zum Menschen, andere im Namen höchster geistiger Werte. Dank ihres Verhaltens wurde eine Wahrheit offenbar, die in der Bibel oft zum Vorschein kommt: Auch wenn der Mensch dazu fähig ist, Böses zu vollbringen, gelegentlich ungeheuerlich Böses, wird das Böse nicht das letzte Wort haben. Selbst im Abgrund des Leidens kann die Liebe siegen. Das Zeugnis einer solchen Liebe, die in Auschwitz hervorgetreten ist, kann nicht in Vergessenheit geraten. Es muß unablässig die Gewissen wecken, Konflikte beenden, zum Frieden ermahnen.

Dies scheint der tiefste Sinn der Gedenkfeier dieses Jahrestages zu sein. Wenn wir nämlich das Drama der Opfer in Erinnerung rufen, so tun wir dies nicht, um schmerzliche Wunden neu aufzureißen, noch um Gefühle des Hasses oder Vorsätze der Rache zu wecken, sondern um diesen Menschen Ehrerbietung zu erweisen, um die Wahrheit der Geschichte ins Licht zu stellen und vor allem damit sich alle bewußt werden, daß jene düsteren Ereignisse für die Menschen von heute einen Anruf zur Verantwortung darstellen müssen, unsere Geschichte mitzugestalten. Nie mehr, an keinem Ort der Erde wiederhole sich das, was Männer und Frauen damals erlebt haben und die wir seit sechzig Jahren beweinen!

Allen Teilnehmern an den Gedenkfeierlichkeiten zu diesem Jahrestag sende ich meinen Gruß und bitte Gott um die Gabe seines Segen für alle.

Aus dem Vatikan, am 15. Januar 2005

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Inserito 01/01/1970